Zwei Drittel aller in
Einrichtungen untergebrachten Wohnungslosen sind ohne Betreuung.
Während eine Studie die Reintegrationsmöglichkeiten Wohnungsloser in
den Arbeits- und Wohnungsmarkt positiv einschätzt, hält die
Sozialsenatorin das Papier jedoch unter Verschluss.
Freddy
U. ist ohne Wohnung. Nach Arbeitslosigkeit, einem wachsenden
Schuldenberg, der Trennung von seiner Freundin und schließlich dem
Verlust der eigenen vier Wände, verbrachte er zunächst mehrere Monate
auf der Straße, ehe er ein Zimmer in einem Übergangswohnheim bezogen
hat. Obwohl er immer noch gesundheitliche Probleme infolge jahrelangen
Drogenmissbrauchs hat, will der gelernte Computerfachmann wieder einer
Beschäftigung nachgehen. Doch das Arbeitsamt kann den 37jährigen nicht
vermitteln. Auf dem Arbeitsmarkt haben nur die eine Chance, die den
herkömmlichen Erfordernissen gerecht werden können. Außerdem ist die
Zahl der Konkurrenten hoch. Nach Angaben des Landesarbeitsamts sind in
der Hauptstadt derzeit 305.705 Menschen als arbeitssuchend gemeldet
(Stand Januar 2003). Dies bedeutet eine weitere Steigerung im Vergleich
zum Vorjahresmonat (242.702). Sozialhilfe wird von 265.271 Menschen
bezogen (Stichtag 31.12.2001, letzter Erhebungsstand des Statistischen
Landesamts). Die strukturell ausgegrenzten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt
trifft die Entwicklung besonders hart. Ob Frauen, Behinderte, Migranten,
Langzeitarbeitslose oder Sozialhilfeempfänger, neben Geschlecht und
Mobilität entscheiden Ausbildungs- und Qualifizierungsgrad, Alter,
sozialer Status und die Dauer der Erwerbslosigkeit über die Chancen auf
dem Arbeitsmarkt. Praktisch chancenlos sind dabei die
sozialhilfebeziehenden Langzeitarbeitslosen. Und am Ende dieser Schlange
stehen – auch hier – Wohnungslose wie Freddy U.
Keine Orientierung in
Richtung Arbeitsmarkt
Zwar sieht das Bundessozialhilfegesetz die Berücksichtigung von
Wiedereingliederungshilfen für die Betroffenen vor. Doch entgegen der
offiziellen Darstellung, wonach rund drei Viertel sämtlicher Bewohner
von kommunalen und gewerblichen Unterbringungen sowie Einrichtungen
freier Träger der Wohlfahrtspflege als "irgendwie" betreut
gelten, findet dies in der Praxis faktisch jedoch nur in den
Einrichtungen mit qualifizierter Betreuung statt. Ursache hierfür ist
der zu hohe Betreuungsschlüssel in den so genannten nie-drigschwelligen
Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sowie die mangelnde Fachkenntnis
des Personals über die Problemlagen einer sich wandelnden
Wohnungslosenklientel. Zwar sehen die vom Berliner Senat formulierten
"Leitlinien zum Obdachlosenrahmenplan" vor, dass für die
derzeit in Berlin rund 6000 sozialhilfe- oder ordnungsrechtlich
untergebrachten wohnungslosen Personen Ausbildung und Arbeit
"fundamentale und unerlässliche Voraussetzungen zur Reintegration
sind und der Aspekt der beruflichen Wiedereingliederung
einzelfallabhängig und einzelfallbezogen beachtet und planerisch
berücksichtigt werden muss". Allerdings erhalten nach Angaben der
Arbeitsverwaltung lediglich knapp 1.900 Personen qualifizierte
Betreuung. Das heißt, bei über zwei Drittel aller offiziell
registrierten Wohnungslosen findet entgegen der Absichtserklärung des
Senats keine arbeitsmarktorientierte Beratung statt. "Ohne gezielte
Programme und Betreuungsmaßnahmen haben Wohnungslose allein schon auf
Grund ihrer Wohnungslosigkeit fast keine Chance, in einen herkömmlichen
Arbeitsprozess reintegriert zu werden", weiß Uwe Traulsen vom
gemeinnützigen Verein Amos, der als einer von nur acht Projekten seit
1993 auch Beschäftigungsfelder für Wohnungslose erschließt. Dabei
liegt der Bedarf angesichts der von der Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe (BAG) in Bielefeld geschätzten 20.000
Wohnungsnotfälle in Berlin wesentlicher höher. "Maßnahmen für
Sozialhilfebezieher in Zusammenhang mit Unterbringung gibt es dennoch
nicht", bestätigt ein Mitarbeiter der Senatsverwaltung für
Gesundheit und Soziales.
Zwei Drittel der
Wohnungslosen sind arbeitswillig
Und dies, obwohl eine im Auftrag der Behörde erstellte
"Planungsstudie zur Vorbereitung und Einschätzung von beruflichen
(Re-)Integrationsmaßnahmen" Erstaunliches ergeben hat. Danach sind
die häufig als "arbeitsscheu" und "Säufer"
stigmatisierten Wohnungs- und Obdachlosen in einem hohen Maße
"arbeitsfähig" bzw. "arbeitswillig". In der von der
Gesellschaft für interdisziplinäre Sozialforschung in Anwendung mbH
(Intersofa) erstellten Studie wurden insgesamt 760 Wohnungslose und von
Wohnungslosigkeit bedrohte Personen zu den Voraussetzungen einer
möglichen Teilnahme an beruflichen (Re-)Integrationsmaßnahmen befragt.
Danach wünschen sich 67 % der Befragten eine feste Arbeitsstelle,
wollen sich beruflich orientieren oder streben eine Qualifizierung an.
Die qualifikatorischen Voraussetzungen der Wohnungslosen entsprechen in
etwa dem gesellschaftlichen Durchschnitt. Die Wissenschaftler haben in
ihrer Untersuchung drei Zielgruppenprofile ermittelt, die sich in der
Dauer der Arbeits- und Wohnungslosigkeit unterscheiden. Erstens:
Überwiegend ältere, von langer Erwerbs- und Wohnungslosigkeit
betroffene Personen, die trotz Motivation kaum noch in
normalitätsorientierte Arbeitsverhältnisse zu reintegrieren sind (35
%). Zweitens: Langzeitarbeitslose mit kurzzeitiger Wohnungslosigkeit,
die häufig auf Grund von Alkohol- und Drogenproblemen ihre Arbeit
verloren haben, aber hochmotiviert mit einer positiven Prognose versehen
werden (37 %). Und Drittens: Vor allem junge Erwachsene, die von kurzer
Arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffen sind (28 %).
Interventionen im
Lebensbereich Wohnen ...
Zentrales Ergebnis der Studie ist, dass der Arbeitsplatzverlust
wesentlicher Auslöser für die Wohnungslosigkeit ist und mit
zunehmender Dauer der Erwerbslosigkeit eine ungünstigere
gesundheitliche und psychosoziale Verfassung einhergeht.
"Beschäftigungs- und Qualifizierungsangebote haben daher für
beide Personengruppen eine präventive Funktion. Für die Gruppe von
Wohnungslosigkeit Bedrohter zur Verhinderung des Wohnungsverlusts und
für die Gruppe der Wohnungslosen zur Vermeidung weiterer Deprivation
während der Wohnungslosigkeit", so die Wissenschaftler.
Erforderlich sei ein mehrschwelliges Angebot, das sich an den
Voraussetzungen der Betroffenen orientiert. Bei Drogenproblemen müsse
im Vordergrund die Abhängigkeitsbewältigung stehen, an die sich das
Angebot von Beschäftigungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten
anschließen müsse. Sind Menschen nicht mehr in der Lage, einer
regelmäßigen Beschäftigung nachzugehen, seien niedrigschwellige
Arbeitsmöglichkeiten erforderlich, die Sinn stiften, Initiative anregen
und Zutrauen entwickeln. Ausgehend von der Tatsache, dass 93 % der
befragten erwerbsfähigen Wohnungslosen auch ohne Arbeit sind, kann eine
soziale Intervention im Lebensbereich Wohnen nicht losgelöst geplant
werden vom Bereich Arbeit. Zu den weiteren Erfolgskriterien rechnen die
Macher der Studie die Beteiligung aller relevanten Akteure
einschließlich der Betroffenen, mehrstufige, kleinteilige Angebote
inklusive Betreuung, die über die Dauer der herkömmlichen Maßnahmen
von 12 Monaten hinaus gehen. Ebenso sei ein hohes Maß an Mitbestimmung
und Selbstorganisation der Betroffenen unabdingbar. Kritisiert wird,
dass bei kaum einem der bestehenden Arbeitsprojekte für Wohnungslose
schulische oder berufliche Qualifizierungsabschlüsse möglich sind. Die
bisher im Rahmen der Hilfe zur Arbeit (HzA) existierenden Arbeitsfelder
wie Malereibetriebe oder Umzugshilfen sowie Tätigkeiten als Hausmeister
oder in Schwimmbädern, Schulen und auf Friedhöfen müssten auf Grund
der Tatsache, dass Wohnungslose häufig den Anforderungen des ersten
Arbeitsmarkts nicht entsprechen, gegebenenfalls auf der Grundlage
detaillierter Marktanalysen erweitert werden. Außerdem seien
alternative Entlohnungsmodelle notwendig. Der
Sozialhilfeempfängerstatus, der den meisten Teilnehmern kaum einen
Zuverdienst ermögliche, müsse durch eine attraktivere Bezahlung
ersetzt werden.
... können nicht
unabhängig vom Bereich Arbeit geplant werden
Zusammenfassend stellt die Studie fest, dass die Unterbringungsart
wohnungsloser Menschen entscheidend für die Chancen der Reintegration
in den Arbeitsprozess ist. Dies deckt sich mit der Einschätzung von
Experten. "Das Absinken während der Wohnungslosigkeit ist
katastrophal. Zur Untätigkeit verurteilt, verschlechtert sich der
Zustand der Menschen dramatisch", sagt Rainer Krebs vom
Diakonischen Werk. "Notwendig ist eine Vernetzung von
Arbeitsmarktintegration und Wohnungsmarktintegration", fordert
Krebs. Denn auch der Wiedereinzug in eine eigene Wohnung gestaltet sich
für viele Betroffene schwierig. Akzeptieren doch die meisten Vermieter
Wohnungslose in der Regel nur bei entsprechender individueller
Betreuung. Selbst im vom Senat mit den ehemals städtischen
Wohnungsunternehmen im Rahmen des so genannten Geschützten
Marktsegments vereinbarten Vorhalts von 1350 Wohnungen pro Jahr gelingt
eine Wohnungsvermittlung auf Grund der Unterversorgung und restriktiver
Zugangshürden immer seltener (siehe MieterEcho Nr. 293). Als ein
mögliches Instrument zur weiteren Konkretisierung der in der Studie
erarbeiteten Vorschläge sieht Liane Schenk, Autorin des Papiers,
Expertenrunden, in denen sich Vertreter aus Verwaltung, Politik und
freien Trägern der Wohnungslosenhilfe zusammenfinden. Zwar existiert in
der Senatsverwaltung eine interne "Arbeitsgruppe" zum Thema
Arbeit und Wohnungslose, die an den Ergebnissen der Studie anknüpfen
soll. Doch während der Senat der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
oberste Priorität einräumt, liegen Ergebnisse bislang noch immer nicht
vor. Mehr noch: Auch die Nachfolgerin von Gabriele Schöttler (SPD),
Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner, hält die Studie bis zum heutigen
Tag unter Verschluss. Die Sozialpolitiker der PDS, die zu
Oppositionszeiten vehement die Veröffentlichung gefordert hatten, tun
sich heute schwer mit dem Papier. Bei einem kürzlich im
Abgeordnetenhaus von der PDS veranstalteten „Werkstattgespräch"
zur Situation Wohnungsloser in Berlin hatte die sozialpolitische
Sprecherin der Partei, Steffi Schulze, einen angekündigten Vortrag mit
dem Titel "Befunde aus dem Giftschrank der Sozialverwaltung –
Einzelaspekte zu den Reintegrationsmöglichkeiten wohnungsloser Menschen
in den Arbeitsmarkt anhand der Intersofia-Studie" kurzerhand aus
der Pressemitteilung gestrichen.
Christian Linde
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